Auf einem T-Shirt einer bekannten Marke las ich einst eine kleine Aufschrift an einer unauffälligen Stelle, die wohl nur für den Träger bestimmt war: „For individuals like me“. Das bringt gut zum Ausdruck, wovon unser Kulturkreis heute beherrscht wird. Der Fokus liegt sehr stark auf dem Individuum und ist darauf gerichtet, die eigenen Wünsche und Gefühle zum Ausdruck zu bringen und danach zu leben. Egal ob in der Familie, in der Schule oder an der Arbeitsstelle, überall geht es in erster Linie um den eigenen Vorteil. Ein Beispiel dafür ist der viel häufigere Wechsel des Arbeitsplatzes, als es früher der Fall war. Wenn die Menschen früher tendenziell öfter ihr Leben lang in einer Firma gearbeitet haben, so wechseln sie heute viel öfters den Arbeitgeber. Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang vom expressiven Individualismus. Er beobachtet, wie die westliche Gesellschaft sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat und nicht mehr die Familie, Gruppe oder das Kollektiv im Fokus stehen, sondern der Einzelne.
In anderen Teilen der Welt wiederum ist das kollektivistische Denken vorherrschend. In Ländern wie China oder Indien steht die Gemeinschaft, die Partei oder die Nation stark im Fokus. Die Identität wird dort vornehmlich von der Gemeinschaft geprägt und beeinflusst. Die Harmonie und Loyalität zur Gruppe haben einen hohen Stellenwert. Mir kommen da z.B. Bilder von Schülern aus China ins Gedächtnis, die in Reih und Glied vor Beginn der Schule stehen und die gleiche Uniform anhaben. Niemand tanzt aus der Reihe, niemand sticht hervor, alle fügen sich harmonisch zu einem großen, ganzen Bild zusammen.
Was ist nun zu bevorzugen? Der Individualismus oder der Kollektivismus? Die Antwort auf diese Frage kann stark von der eigenen Prägung abhängen. Menschen die in einer individualistisch geprägten Gesellschaft aufgewachsen sind, werden eher die Vorteile dieses Systems sehen und den Kollektivismus kritisch beäugen. Umgekehrt geht es solchen, die bspw. in Ländern der ehemaligen Sowjetunion groß geworden sind. Sie werden eher die positiven Aspekte des Kollektivismus hervorheben. Die Wahrheit liegt in der Mitte. Sowohl der Kollektivismus, als auch der Individualismus enthalten positive Aspekte, gleichzeitig aber auch problematische Seiten. Schauen wir uns zunächst den Individualismus an und betrachten die Schattenseiten. Er fördert den Egoismus und die Suche nach dem eigenen Vorteil. Interessant ist nicht, was dem anderen dient, sondern was mir nützt. Das Wohl des Volkes oder der Gemeinschaft spielt keine große Rolle, viel wichtiger ist, was den Einzelnen weiterbringt. Die Ellenbogengesellschaft oder auch die Zunahme von Single-Haushalten sind Produkte dieser Strömung. Die Gefahr der Vereinsamung ist in individualistischen Gesellschaften ein viel größeres Problem, als in kollektivistischen. Alte Menschen werden in Altenheime gebracht, man möchte sich in seiner Lebensweise nicht einschränken.
Positiv kann hervorgehoben werden, dass der Individualismus den Menschen als Individuum betont. Einzelne Menschen sind keine Nummer oder Statisten, sondern haben eine Würde und sind wertvoll. Die Leistung des Einzelnen wird gewürdigt, Kreativität und Innovation gefördert. Es besteht nicht der starke Druck, sich in das Große, Ganze nahtlos einfügen zu müssen, stattdessen können eingetretene Pfade verlassen und neue Wege beschritten werden. Die Freiheit des Individuums ist ein wichtiges Gut, welches hochgehalten wird.
Wie sieht es beim Kollektivismus aus? Auch er bringt problematische Aspekte mit sich. Der Einzelne hat keine große Bedeutung. Es zählt die Gemeinschaft, das große Ziel, welches man gemeinsam erreichen möchte. Der Einzelne ist Statist und kann bei Bedarf ausgetauscht werden. Individuelle Freiheit wird kleingeschrieben und muss dem Gemeinwohl untergeordnet werden. Der Missbrauch von Macht ist in diesem System außerdem leichter, da eine bestimmte Forderung als „Wohl für das Volk“ deklariert und dann durchgesetzt werden kann.
Dafür ist in einem kollektivistischen System der Zusammenhalt stärker und das Problem der Vereinsamung ist viel weniger ausgeprägt. Die Familien leben viel häufiger in mehreren Generationen zusammen, sodass die Familienbande enger sind. Den Menschen geht es nicht so sehr um das eigene Wohl, stattdessen schauen sie auf die Gemeinschaft und setzen sich dafür ein. Die Unterstützung füreinander ist stärker ausgeprägt.
Es wird deutlich, dass beide Systeme ihre Vor- und Nachteile haben und das Optimum eine gesunde Mischung aus beiden wäre. Genau diese Sicht vermittelt das Christentum. Auf der einen Seite werden wir von Gott als Individuen wahrgenommen und geachtet. Jeder Einzelne ist wertvoll und nach dem Bilde Gottes geschaffen, jeder Mensch wird von Gott geliebt und hat eine unsterbliche Seele. Wenn wir uns bspw. ansehen, wie Jesus mit Menschen umgegangen ist, wird dieser Umstand deutlich. Jesus sprach persönlich mit Petrus, nachdem dieser ihn verleugnet hatte. Er hat die Jünger nicht nur als Gruppe belehrt und geführt, sondern es war ihm wichtig, eine persönliche Beziehung zu ihnen zu pflegen. Ähnlich war es bei Thomas, auch auf ihn ging Jesus direkt ein. Dies zeigt, dass Jesus jeden Jünger liebte und sich um jeden Einzelnen kümmerte. Saulus ist ein weiteres Beispiel dafür. Als er auf dem Weg nach Damaskus war, begegnete Jesus auch ihm persönlich. Jesus hätte genau so einen Engel senden können, der Saulus die Botschaft übermittelt, doch er selbst sprach zu ihm: „Saul, Saul, warum verfolgst du mich?“ Jesus ist unmittelbar an Saulus interessiert und möchte mit ihm in Beziehung treten. Schließlich ist der Wert des Individuums auch darin zu erkennen, wie Jesus über Gott sprach. Er nannte ihn häufig den himmlischen Vater. Er stellte ihn als den Vater vor, der sich um seine Kinder kümmert, sie liebt und eine persönliche Beziehung zu ihnen hat. Das Bild des Vaters zeigt in besonderer Weise, dass Gott an einzelnen Menschen Interesse hat und sie für ihn wertvoll sind.
Gleichzeitig geht aus der Bibel auch deutlich hervor, dass die Gemeinschaft eine wichtige Rolle spielt. Gott hat die Ehe und damit auch die Familie eingesetzt, in welcher Menschen eine Gemeinschaft bilden und gemeinsam ihr Leben gestalten. Der Mensch wurde von Gott grundsätzlich als ein Wesen geschaffen, das auf Gemeinschaft mit anderen ausgerichtet ist. Gemeinschaft mit anderen Menschen ist ein bedeutender Faktor, welcher das Menschsein ausmacht. So ist es nicht zufällig so, dass Christen von Gott zu seiner Gemeinde hinzugefügt werden. Sie werden Teil der Familie Gottes, Teil einer Gemeinschaft, die gemeinsam Gott ehrt, ihm dient und füreinander da ist.
Im 1. Korintherbrief vergleicht Paulus in Kapitel 12 die Gemeinde mit einem Leib. Der Leib des Menschen ist eine Einheit mit vielen Gliedern. So ist auch die Gemeinde ein Leib, der zwar viele Glieder hat, aber alle Glieder dienen zusammen dem Leib. Das spannende an diesem Bild ist, dass einerseits die Einheit der Vielen als Leib betont wird, auf der anderen Seite aber auch die Individualität der einzelnen Glieder. Die Schönheit dieses Bildes ist darin zu finden, dass alle gemeinsam an einem Werk arbeiten, obwohl sie unterschiedlich sind. Das Ohr unterscheidet sich von der Hand und der Fuß von der Nase. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit ist jedes einzelne Glied wertvoll und erfüllt eine bestimmte Aufgabe, die für alle nützlich ist. Gerade in diesem Bild verbindet sich die Individualität mit der Gemeinschaft.
Der christliche Glaube bevorzugt also weder den Kollektivismus, noch den Individualismus, sondern zeigt den Wert beider Konzepte auf. Gott hat uns Menschen einerseits als Individuen geschaffen und behandelt uns auch als solche, auf der anderen Seite aber auch als Gemeinschaftswesen, die aufeinander angewiesen sind. Wie bei vielen anderen Fragen bietet uns die Bibel eine ausgewogene Sicht, ohne in ein Extrem zu verfallen. Es ist schön zu sehen, wie sie eine Antwort gibt, die den Menschen in seiner Individualität wertschätzt und gleichzeitig auch den Wert der Gemeinschaft betont.