Ein Merkmal von Völkern, Kulturen und Gemeinschaften ist, dass sie unterschiedliche Traditionen hervorgebracht haben. Egal ob Feste, Essgewohnheiten, Verhaltensweisen oder Kleidung, die Traditionen sind vielfältig und faszinierend. Manchmal empfinden wir sie als irritierend, fremd oder unverständlich, manchmal aber auch als erfrischend und spannend. Traditionen sind häufig tief in der jeweiligen Kultur verankert, schaffen ein Zusammengehörigkeitsgefühl und sind nicht selten identitätsstiftend. Dementsprechend haben sie für viele Menschen einen großen Wert. In Deutschland ist z.B. Weihnachten ein traditionelles Fest, welches praktisch den gesamten Dezember einnimmt, prägt und von der Mehrheit der Bevölkerung in irgendeiner Form gefeiert wird.
Auch im Christentum spielen Traditionen eine große Rolle. Ja, viele Traditionen die heute im Westen etabliert sind, sind auf das Christentum zurückzuführen oder wurden davon stark beeinflusst. Sie vermitteln bspw. bestimmte Werte und Ordnungen oder rufen an Feiertagen Ereignisse in Erinnerung. Sie haben in der christlichen Gemeinde einen festen Platz und sorgen dafür, dass Normen, Einsichten und Werte an die nächste Generation weitergegeben werden. Somit bilden sie eine wertvolle Stütze um anderen den christlichen Glauben nahe zu bringen.
Nun geht es mir hier nicht darum, lediglich über Traditionen zu schreiben, sondern die Beziehung zum Wort Gottes zu betrachten. In der Theologie wird neben dem Wort Gottes klassischerweise die Tradition (außerdem die Erfahrung und der Verstand) als eine weitere Erkenntnisquelle für den christlichen Glauben genannt. Das bedeutet, dass die Tradition dazu dienen kann, bestimmte christliche Wahrheiten zu vermitteln, zu festigen oder zu vertiefen. Wie stehen nun diese beiden Quellen in Beziehung zueinander? Was ist zu tun, wenn diese beiden Quellen einander widersprechen? Welcher Quelle ist dann der Vorzug zu geben?
Die Reformatoren haben hierauf eine deutliche Antwort gegeben: „Sola Scriptura“. Die Schrift hat die höchste Autorität und alles andere, auch die Tradition, muss sich darunter beugen. Wenn nun die Tradition mit der Schrift in Konflikt gerät, ist ganz klar die Schrift vorzuziehen. Die Tradition muss sich an der Schrift prüfen und korrigieren lassen. Christliche Traditionen haben dann einen Wert, wenn sie mit der Schrift in Einklang stehen und die Wahrheiten des Wortes Gottes stützen. Dann stellen sie eine Hilfe dar, um bestimmte Inhalte des christlichen Glaubens zu vertiefen und verständlicher zu machen. Um eine Tradition als genuin christlich bezeichnen zu können, muss diese ganz klar in der Schrift verankert sein und sich daraus ableiten.
Die Antwort der Reformatoren auf die oben aufgeworfene Frage war keine willkürliche Festlegung, sondern gründete sich auf dem Zeugnis und Anspruch der Schrift. Die bekannteste Stelle ist dabei sicherlich 2. Tim. 3,16: „Alle Schrift ist von Gott eingegeben“. Doch auch andere Stellen bezeugen, dass es sich bei der Schrift nicht um Menschenwort handelt, sondern um Gotteswort. Es gibt viele Stellen in der Bibel, an denen Gott direkt spricht. Sie werden z.B. mit den Worten „So spricht der Herr“ eingeleitet. Petrus bezeugt außerdem im 2. Petrusbrief in Kapitel 1,20-21, dass die heiligen Menschen Gottes unter der Wirkung des Heiligen Geistes geschrieben haben. Die Bibel ist keine Sammlung von Legenden oder Erzählungen, die sich im Laufe der Geschichte gebildet haben, sondern die Botschaft Gottes an die Menschen. Gott selbst hat bei der Verfassung der Schrift darüber gewacht.
Dies kann von der Tradition natürlich nicht behauptet werden. Traditionen haben an ganz unterschiedlichen Stellen und unter unterschiedlichen Umständen ihren Anfang genommen. Manche haben ihren Ursprung in Mythen oder Legenden, andere nahmen aufgrund von historischen Ereignissen ihren Anfang, manche entwickelten sich aufgrund von jahreszeitlichen Ereignissen, viele wurden natürlich auch durch religiöse Einflüsse geprägt. In den meisten Fällen handelt es sich bei Traditionen um menschliche Entwicklungen, die sich im Laufe der Zeit etablierten. Traditionen können dementsprechend nicht den Stellenwert einnehmen, den das Wort Gottes hat. Sie sind auch nicht von ewiger Bedeutung. Manche Traditionen halten sich Jahrhunderte, andere verschwinden wieder nach einer gewissen Zeit.
Im Kontext christlicher Traditionen kann es nun zu unterschiedlichen Missverständnissen kommen, von denen ich zwei skizzieren möchte. Beim ersten Missverständnis geht es um die Verwechslung von Traditionen und dem Wort Gottes. D.h. man meint, dass bestimmte christliche Traditionen direkt aus dem Wort Gottes kommen und somit für Christen verpflichtend sind. In diesem Fall werden diese auch nicht als Traditionen angesehen, sondern letztlich als ein Gebot Gottes wahrgenommen. Im Mittelalter etablierte sich z.B. die Tradition von Pilgerfahrten. Diese Reisen wurden zu heiligen Stätten des Christentums (z.B. nach Jerusalem oder Rom) unternommen, um Segen zu erlangen, die Vergebung der Sünden zu bekommen und Verdienste bei Gott zu erhalten. Viele Gläubige nahmen an diesen Fahrten teil, weil sie diese für ihr Seelenheil als wichtig ansahen. Sie meinten damit das zu tun, was Gott von ihnen erwartete. Sie verwechselten die Tradition mit dem Wort Gottes. Heute geschieht diese Verwechslung z.B. auf dem Gebiet der Kleidung. Das Tragen von bestimmten Kleidungsstücken oder die Ablehnung von anderen Kleidungsstücken werden als praktisch aus dem Wort Gottes kommend angesehen. Tatsächlich handelt es sich in vielen Fällen aber einfach um Traditionen, die hier mit dem Wort Gottes verwechselt werden. Nehmen wir als konkretes Beispiel die kurze Hose. Mit der Schrift lässt sich ein Verbot der kurzen Hose nicht begründen. Es handelt sich hier um eine Tradition der Väter, vergleichbar mit den Überlieferungen der Alten bei den Pharisäern. Es ist nicht dagegen einzuwenden, wenn jemand auf das Tragen von kurzen Hosen verzichtet, problematisch wird es nur, wenn die Tradition mit der Schrift verwechselt wird.
Das Problem der Verwechslung war übrigens ein Hauptproblem der Pharisäer. Sie legten auf die Überlieferungen der Alten großen Wert und waren der Meinung, dass es sich dabei um Forderungen und Gebote Gottes handelt. In Wahrheit waren es Traditionen, die sich im Laufe der Zeit durch mündliche Überlieferungen herausgebildet hatten. Sie waren ein Werk der Menschen und nicht von Gott inspiriert. Die Pharisäer gingen allerdings so weit und setzten die Tradition auf eine Stufe mit der Schrift, beide hatten für sie die gleiche Autorität. Ja, letztlich ging es sogar so weit, dass sie um der Überlieferungen willen die Gebote Gottes aushebelten und missachteten (Mk. 7,13). Dies ist eine logische Folge. Wenn eine Erkenntnisquelle auf eine Stufe mit dem Wort Gottes gestellt wird, dann wird letztlich das Wort Gottes abgewertet. Der Fokus der Pharisäer war viel stärker auf der Tradition und führte dazu, dass sie wichtigere Gebote Gottes übersahen und nicht auf dem Schirm hatten (Mt. 23,23). Damit ist das zweite Missverständnis in Bezug auf Traditionen genannt. Es ist die Überhöhung und zu starke Betonung der Tradition, die mit einer Missachtung und Abwertung der Schrift einhergeht.
Die Angriffe auf das Wort Gottes kommen nicht nur aus dem liberalen Lager, sie kommen genauso aus dem Lager der Traditionalisten, die den Traditionen einen zu hohen Stellenwert einräumen. Sobald die Tradition zu stark im Fokus ist und ein zu großer Wert darauf gelegt wird, muss man damit rechnen, dass Gottes Wort leidet. Entweder darin, dass es weniger Beachtung findet, da einfach zu viel über die Traditionen geredet und diskutiert wird oder auch darin, dass bestimmte Worte der Schrift ignoriert oder gar als nicht praktikabel abgelehnt werden, da sie der Tradition im Wege stehen. Es gilt also nicht nur eine Liberalisierung zu vermeiden, sondern genauso eine Traditionalisierung. Man kann, wie so häufig von zwei Seiten vom Pferd fallen. Dem Feind ist es letztlich egal auf welcher Seite dies geschieht, Hauptsache das Wort Gottes verliert an Gewicht. Niemand von uns ist davon gefeit, wir sollten alle darüber wachen, dass das Wort Gottes die höchste Autorität in unserem Leben ist und bleibt. Nur wenn wir dies beachten, kann tatsächlich von Bibeltreue gesprochen werden.