Dieser Artikel ist Teil einer Serie, in der ich mich mit dem Werk von Carl Trueman „Der Siegeszug des modernen Selbst“ intensiver auseinandersetze.
Trueman stellt in seinem Werk ein weiteres Denkgerüst vor, welches von dem Soziologen Philip Rieff etabliert wurde. Es ist die Einteilung in „erste“, „zweite“ und „dritte Welten“. Rieff beschreibt damit nicht etwa die Einteilung der Welt in wirtschaftliche Regionen, sondern eine kulturelle Aufgliederung. Erste und zweite Welten sind davon geprägt, dass sie einer „heiligen Ordnung“ unterliegen. Sie rechtfertigen ihre Moral mit einer transzendenten Ordnung, die über diese materielle Welt hinausgeht.
Erste Welten sind heidnisch, bauen ihre Moral aber auf einem Mythos auf. Das Orakel von Delphi wäre ein Beispiel dafür. Die Gesetze Spartas wurden von diesem Orakel autorisiert und der Herrscher Spartas beugte sich darunter. Das Orakel bildete die heilige Ordnung und darauf beriefen sich die Spartaner. In solchen Welten ist das Schicksal der ausschlaggebende Gedanke.
In zweiten Welten ist der Glaube hingegen entscheidend. Das Christentum mit seinem Glauben an einen persönlichen und unendlichen Gott, ist dafür ein Beispiel. Dieser Gott hat seinen Willen in der Bibel offenbart und damit die Grundlage für die Moralvorstellungen gegeben. Die heiligen Ordnungen werden also durch Gott gegeben, der außerhalb der materiellen Welt steht.
Bei dritten Welten kommt es zu einer kompletten Umkehrung. Heilige Ordnungen existieren nicht. Es gibt nichts außerhalb der materiellen Welt, dritte Welten bewegen sich dementsprechend in einem immanenten (innerweltlichen) Rahmen. Sie können sich auf nichts Größeres außerhalb von sich selbst berufen und sind auf sich selbst angewiesen. Das bedeutet, dass ihr Fundament unbeständig und anfällig für Verwirrung ist. Sie haben keine feststehende heilige Ordnung, die über ihnen steht. Die Beliebigkeit und das Chaos sind damit vorprogrammiert. Dritte Welten sind außerdem von einer schnellen Veränderung der Moralvorstellungen geprägt, da die heilige Ordnung fehlt, die ein Garant für Halt und Kontinuität ist. Trueman schreibt:
[…] die Tatsache, dass dritte Welten ihre Moralvorstellungen nicht mit einer heiligen Ordnung begründen, macht ihre Kulturen zutiefst unbeständig, schutzlos und anfällig für Verwirrungen.
Trueman, Der Siegeszug des modernen Selbst, 2. Aufl. Bad Oeynhausen: Verbum Medien, 2022, S.
90.
Die gegenwärtige westliche Gesellschaft ist in großen Teilen der dritten Welt zuzuordnen. Sie zeichnet sich durch die Abwesenheit oder Abschaffung vieler heiliger Ordnungen ab. Im Laufe der Jahrhunderte wurde die Bibel durch die Bibelkritik auseinander genommen. Die Evolutionstheorie ermöglichte es, die Welt ohne einen Schöpfer zu erklären. Seit den 1960er Jahren findet eine Umkehrung der Sexualität statt. Das Leben der Ungeborenen verliert ihren Schutz. Die Bestrebungen der letzten Jahre zeigen, wie die Ehe mehr und mehr unter Beschuss gerät. All das sind Beispiele dafür, wie heilige Ordnungen in der Auflösung begriffen sind.
Trueman macht deutlich, dass in einer Gesellschaft alle drei Welten nebeneinander existieren können. Der größte Teil ist sicherlich der dritten Welt zuzuordnen, doch gibt es auch Gruppen die zur ersten oder zweiten Welt gehören. Diese Tatsache macht die Kommunikation so schwierig. Mitglieder der ersten und zweiten Welt können noch auf einer gemeinsamen Basis miteinander reden, da beide von einer heiligen Ordnung ausgehen. Wenn sie allerdings mit Mitgliedern dritter Welten in Kontakt treten wird dies problematisch, da diese per se keine heiligen Ordnungen akzeptieren. Es ist heute also besonders herausfordernd mit Menschen zu sprechen, die keine transzendenten Autoritäten mehr anerkennen.