Folgende Frage begegnet mir immer wieder in Gesprächen: „Ja, das ist die Theorie, aber wie sieht es in der Praxis aus?“ Der Fragesteller möchte damit deutlich machen, dass die Theorie ja schön und gut ist, aber mit der Praxis nicht wirklich übereinstimmt. Es entsteht der Eindruck, als ob die Theorie unabhängig von der Praxis existieren könne. Tatsächlich kann aber nur solch eine Theorie bestehen, die anhand der Praxis bestätigt werden kann. Eine Theorie, die in der Praxis nicht funktioniert, ist eine unnütze Theorie. Theorie und Praxis gehen Hand in Hand. Wenn ein Elektrolehrling sich bspw. fachspezifische Inhalte aneignet, legt er damit die theoretischen Grundlagen, um anschließend richtig mit elektrischem Strom umzugehen. Die Kenntnis der Theorie ist für ihn entscheidend, um sicher an elektrischen Anlagen arbeiten zu können. Sein Leben hängt gewissermaßen daran, dass er die theoretischen Konzepte richtig verstanden hat. Dieses Beispiel zeigt, dass Theorie und Praxis eng miteinander verbunden sind und zusammenwirken.
Ich habe schon mehrfach erlebt, dass die eingangs zitierte Frage in Bezug auf die Bibel gestellt wurde. Jemand führte in einer Diskussion bspw. eine bestimmte Bibelstelle an und verwendete diese für seine Argumentation. Als Antwort erhielt er dann diese Frage. Damit drückte der Fragende aus, dass sich das Argument in der Theorie ja gut anhört, aber in der Praxis so nicht umgesetzt werden kann. Er tritt an die Bibel also mit seinem Erfahrungsschatz heran und fällt ein Urteil darüber, was umsetzbar ist und was nicht. Er hat bestimmte Erfahrungen gemacht und wenn eine Bibelstelle etwas anderes aussagt, ja, dann wird’s schwierig.
Das ist eine äußerst problematische Haltung in Bezug auf das Wort Gottes. Der Mensch erhebt sich damit über das Wort und entscheidet, welche Worte umgesetzt werden können und welche nicht. Er drückt damit letztlich aus, dass es in der Bibel Stellen gibt, die sich praktisch nicht umsetzen lassen. Das ist eine Form der Bibelkritik. Der Gedankengang ist dabei etwa: „Ich kann mir nicht vorstellen, wie Stelle X oder Y in die Praxis realisiert werden kann, da sie sich nicht mit meiner Praxis deckt. Dementsprechend ist diese Stelle so nicht umsetzbar oder muss zumindest uminterpretiert werden.“ Mit dieser Haltung schwächt man das Wort Gottes entscheidend ab und beraubt es seiner Kraft.
Das Problem ist, dass man in Bezug auf die Bibel überhaupt eine Trennung in Theorie und Praxis vornimmt. Die Bibel kennt solch eine Trennung nicht. Theorie und Praxis sind auf das engste miteinander verbunden. Jede Stelle in der Bibel hat eine praktische Relevanz. Es gibt keine Stellen in der Schrift, die einfach bestimmte theoretische Konzepte vermitteln wollen, aber sonst für das Leben irrelevant sind. Die Bibel spricht in das Leben hinein. Die Bibel vermittelt die Realität, sie offenbart uns, wer Gott ist und wer der Mensch ist. In 5. Mose 32,47 sagt Mose zum Volk:
Denn es ist kein leeres Wort für euch, sondern es ist euerLeben, und durch dieses Wort werdet ihr euerLeben verlängern in dem Land, in das ihr über den Jordan geht, um es in Besitz zu nehmen!
Damit verdeutlicht Mose dem Volk, wie wichtig das Wort für ihr Leben ist. Es wirkt sich lebensverlängernd aus, es wirkt ganz konkret in sein Leben hinein. Für das Volk machte es einen großen Unterschied, ob es dem Wort folgte oder nicht, die Folgen für das Leben waren weitreichend. Dies hat sich bis heute nicht verändert. Menschen hören das Evangelium, glauben und werden von Gott nachhaltig verändert. Das Wort Gottes ist keine Theorie, es ist Praxis, oder Theorie und Praxis vollkommen verbunden.
Dies möchte anhand von 1 Joh. 1,5 deutlich machen. Dort heißt es: „Und das ist die Botschaft, die wir von ihm gehört haben und euch verkündigen, dass Gott Licht ist und in ihm gar keine Finsternis ist.“ Die scheint vordergründig ein rein lehrmäßiger („theoretischer“) Text zu sein, der eine Eigenschaft des Wesens Gottes vermittelt, ohne einen praktischen Bezug zu haben. Tatsächlich enthält dieser Text aber sehr wichtige Lektionen für die „Praxis“. Mit dem Bild des Lichts macht Johannes deutlich, dass Gott vollkommen und ohne Sünde ist. Demgegenüber steht der Mensch mit seiner Sündhaftigkeit, mit der er vor dem sündlosen Gott nicht bestehen kann. Er kann mit seinen Taten Gott nicht gnädig stimmen, da in Gott gar keine Finsternis ist und er mit ihr auch keine Gemeinschaft hat. Dieser Text enthält eine wichtige „praktische“ Lektion: Menschen können aus sich heraus nicht in die Gemeinschaft mit Gott treten, auch nicht durch Taten. Diese Stelle, die einen wichtigen Wesenszug Gottes vorstellt, ist also keine „nice to know“ Information, sondern eine bedeutende Aussage mit weitreichenden Konsequenzen für das Leben.
Der Apostel Jakobus unterscheidet auch nicht zwischen Theorie und Praxis, wenn er in Kapitel 1,22 schreibt: „Seid aber Täter des Wortes und nicht bloß Hörer, die sich selbst betrügen.“ Jedes Wort Gottes hat die Tat als Ziel. Wer das Wort nur hört und als nette Info ablegt, handelt nicht entsprechend der Zielrichtung des Wortes. Der Hörer soll zum Täter (Praktiker) werden. Die Bibel ist von Gott also als praktisches Buch angelegt, sie ist lebensnah und praxisrelevant.
Nun gibt es auch Situationen, in denen auf Basis von Bibelstellen falsche Theorien (Theologie) aufgestellt werden. In der Kirchengeschichte gibt es dafür zahlreiche Beispiele. Wie ist damit umzugehen? Sie müssen nicht in erster Linie anhand der Praxis geprüft werden, sondern anhand der Schrift. Das Wort Gottes ist der Maßstab, um falsche Theologie aufzudecken. Die Praxis muss anhand der Schrift geprüft werden und nicht die Schrift anhand der Praxis. Diese Theorien wirken sich selbstredend auch in der Praxis aus und sind auch als solche zu erkennen. Schlechte Theologie wird sich nämlich immer in schlechter Praxis auswirken, gute Theologie in guter Praxis. Jemand sagte mal: „Wir haben die gleiche Theologie, nur die Praxis unterscheidet sich.“ Das ist eine falsche Aussage. Theologie und Praxis können nicht voneinander getrennt werden. Sowie die Frucht nicht vom Stamm getrennt werden kann. Es kann sein, dass Menschen eine gewisse Praxis etabliert haben, ohne sich der Theorie bewusst zu sein. Trotzdem steht eine bestimmte Theorie (Theologie) dahinter.
Die Trennung von Theorie und Praxis ist in Bezug auf Gottes Wort also problematisch, beides muss zusammen gesehen werden. Die Theorie ist primär zu betrachten, da die Praxis daraus erwächst. Die Gemeinde braucht folglich gute Theologie, um eine gute Praxis zu erhalten. Der Maßstab zur Bewertung ist hierbei allein das Wort Gottes.