Was ist bedeutender? Das Wort Gottes oder die Erfahrung? Die Antwort scheint auf der Hand zu liegen: Natürlich das Wort Gottes. Die Praxis zeigt allerdings, dass man dazu neigen kann, genau anders herum zu denken. Da hat jemand bspw. in einem bestimmten Bereich „gute“ Erfahrungen gemacht und sieht dies als die biblische Lehre an. Beim genaueren Hinsehen stellt sich dann heraus, dass sich seine Praxis mit der Bibel nicht begründen lässt. Konfrontiert man diesen Menschen mit dem, was die Bibel eigentlich lehrt, kann man folgendes zu hören bekommen: „Das funktioniert in der Praxis doch gar nicht!“ Die Praxis ist hier also die Grundlage und nicht das Wort.
Ein Beispiel wäre die Frage der Mündigkeit. Gemeinden, die sehr stark von Regeln dominiert werden, neigen dazu, dieses Thema zu vernachlässigen. Eine Erziehung zur Mündigkeit findet kaum statt, dafür aber zur Abhängigkeit. Solche Gemeinden können sich schwer vorstellen, wie man Geschwister zu reifen Christen erzieht und ihnen somit weniger vorschreibt. Die langjährigen Erfahrungen sind hier ein Hindernis, um biblische Mündigkeit recht zu verstehen und umzusetzen.
Ein weiteres Beispiel begegnete mir in einer Vorlesung, in welcher der Dozent Off. 3,20 erwähnte. Er sprach darüber, dass dieser Text an die Gemeinde in Laodizea und somit an Christen gerichtet war. Man sollte diesen Text also nicht für die Evangelisation unter Nichtchristen verwenden, da die Aussage Jesu hier eindeutig an Christen adressiert ist. Daraufhin meldete sich einer der Schüler und erzählte, dass in seiner Gemeinde, dieser Text vor kurzem auf einer Evangelisation verwendet wurde. In Folge dessen bekehrten sich einige Menschen. Für den Schüler war der erlebte Segen ein Beweis dafür, dass man diesen Text auch auf Nichtchristen anwenden kann. Seine Erfahrung war für sein Bibelverständnis ausschlaggebend.
Und genau hier liegt das Problem. Die Erfahrung wird nicht durch die Brille der Schrift betrachtet, sondern umgekehrt. Ich mache eine bestimmte Erfahrung, dementsprechend muss diese Bibelstelle folgendes bedeuten. Bibelstellen werden zurechtgebogen, sodass sie zu meiner Erfahrung passen. Damit steht die Erfahrung über der Bibel und ist die Brille, durch die ich die Schrift betrachte. Genau anders herum wird ein Schuh draus. Ich erforsche, was das Wort Gottes sagt und beurteile auf dieser Grundlage meine Erfahrungen. Das Wort Gottes hat die höchste Autorität und diesem muss sich auch meine Erfahrung unterordnen. Ich passe demnach meine Erfahrungen der Schrift an und lasse sie von dort her durchleuchten.
Ich muss meine vermeintlich guten Erfahrungen also immer von der Schrift prüfen. Denn immer wieder stellt sich heraus, dass meine Erfahrungen nicht so gut sind, wie ich gedacht habe. Ich habe nur nicht gemerkt, welche negativen Effekte meine Handlungen aufgrund von bestimmten Erfahrungen hatten. Außerdem habe ich nicht gemerkt, dass diese Handlungen der biblischen Praxis widersprechen. Denn darum geht es ja: Meine Erfahrungen wirken sich in der Praxis aus. Sie werden zu Taten. Wenn ich mit meiner Bohrmaschine gute Erfahrungen gemacht habe, werde ich diese auch weiter einsetzen. Die Erfahrung beeinflusst also mein Tun. Deshalb ist es wichtig, dass ich meine Erfahrungen vom Wort Gottes durchleuchten lasse, da sie in konkrete Handlungen münden.
Auch für negative Erfahrungen ist dieses Thema relevant. Wie gehe ich damit um, wenn ich persönlich durch schwierige Umstände gehen muss? Was mache ich dann mit Bibelstellen wie Psalm 23,1: „Der HERR ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln“? Von meiner Erfahrung her erlebe ich in solchen Zeiten doch einen Mangel. Mir geht es schlecht, ich habe keine Kontrolle über mein Leben. Ich habe in diesem Moment nicht den Eindruck, dass es mir an nichts mangelt. Ganz im Gegenteil. Der Mangel scheint immens zu sein. Doch David sagt hier eindeutig: „Mir wird nichts mangeln“. Das Wort Gottes steht über meiner Erfahrung. Es gilt, egal welche Erfahrungen ich gerade mache. Der von mir empfundene Mangel ist aus Gottes Sicht kein Mangel. Gott steht zu seinem Wort, ich kann mich darauf verlassen. Er wird mich also auch durch meine Schwierigkeiten durchführen und bleibt dabei der gute Hirte. Er hat die Kontrolle über mein Leben nicht verloren.
Die Erfahrung ist eine Komponente, die in der heutigen Gesellschaft eine viel größere Rolle spielt, als in der Vergangenheit. Heute achten und hören Menschen viel mehr auf ihre Erfahrungen. Das Gefühl und das Erlebte werden zum Maßstab für das Leben. Danach orientiert man sich und richtet sein Handeln aus. Hauptsache die Erfahrung stimmt. Als Basis für die Gesellschaft taugt das wenig, schließlich macht jeder ja andere „gute“ und „schlechte“ Erfahrungen. Auch für Christen ist dieser Weg nicht zielführend. Das Fundament, welches wirklich trägt und Einheit ermöglicht, ist allein das Wort Gottes. Ich darf alles der Schrift unterordnen, auch meine Erfahrungen. Dann habe ich einen echten Felsen, auf den ich bauen kann.