Geistlicher Missbrauch (1)

Jane Eyre erlebt im Internat Lowood ein äußerst demütigendes Verhalten durch den Leiter der Anstalt Mr. Brocklehurst. Er ist bei einer Gelegenheit im Klassenzimmer von Jane zu Besuch und wird durch das Fallenlassen ihrer Tafel auf sie aufmerksam. Das erinnert ihn an das, was Janes Tante ihm über sie erzählt hat und stellt sie vor allen bloß. Der folgende Ausschnitt ist ein Beispiel für geistlichen Missbrauch.

Wahrscheinlich wäre ich seiner Wachsamkeit auch entgangen, wenn meine verräterische Tafel nicht durch einen unglücklichen Zufall meiner Hand entglitten und mit einem lauten Krach, dem kein Ohr sich verschließen konnte, zu Boden gefallen wäre. Sofort waren aller Augen auf mich gerichtet. Ich wusste, dass jetzt alles zu Ende sei. Während ich mich bückte, um die Fragmente meiner Tafel zusammenzusuchen, sammelte ich meine Kräfte für das Schlimmste. Es kam.

»Ein nachlässiges Mädchen!« sagte Mr. Brocklehurst, und gleich darauf – »Ah, ich bemerke, es ist die neue Schülerin.« Bevor ich aufatmen konnte, »ehe ich es vergesse, ich habe noch ein Wort in Bezug auf sie zu sagen.« Dann laut, ach, wie laut erschien es mir! »Lassen Sie das Kind, das seine Tafel zerbrochen hat, vortreten!«

Aus eigenem Antriebe hätte ich mich nicht bewegen können; ich war gelähmt, aber die beiden großen Mädchen, die mir zur Seite saßen, stellten mich auf die Füße und schoben mich vorwärts dem gefürchteten Richter entgegen, dann führte Miß Temple mich sanft dicht vor ihn, und wie aus weitet Ferne vernahm ich ihren geflüsterten Rat:

»Fürchte dich nicht, Jane, ich habe gesehen, dass es ein unglücklicher Zufall war, du sollst nicht bestraft werden.«

Wie ein Dolch drang dieses gütige Flüstern mir ins Herz.

»Noch eine Minute und sie wird mich als eine Heuchlerin verachten lernen,« dachte ich und bei dieser Überzeugung tobte eine namenlose Wut gegen Mrs. Reed, Brocklehurst und Compagnie durch meine Adern. Ich war keine Helen Burns.

»Holt jenen Stuhl,« sagte Mr. Brocklehurst auf einen sehr hohen Stuhl deutend, von dem eine Schulaufseherin sich soeben erhoben hatte. Er wurde gebracht.

»Stellt jenes Kind hinauf.«

Und hinauf gestellt wurde ich, von wem weiß ich nicht; ich war nicht in der Verfassung, die begleitenden, näheren Umstände wahrzunehmen; ich fühlte nur, daß ich ungefähr bis zur Höhe von Mr. Brocklehursts Nase emporgehißt wurde, dass er kaum eine Elle lang von nur entfernt stand und dass unter mir eine Wolke von silbergrauen Federn, dunkelrotem Seidenpelze und orangegelben Kleidern durcheinander wogte.

Mr. Brocklehurst räusperte sich.

»Meine Damen,« sagte er zu seiner Familie gewandt, »Miß Temple, Lehrerinnen und Kinder, ihr alle sehet dieses Mädchen?«

Natürlich sahen sie es; denn ich fühlte ihre Augen wie Brenngläser auf meine versengte Haut gerichtet.

»Ihr sehet, dass sie noch jung ist; ihr bemerkt, dass auch sie die gewöhnliche Gestalt eines Kindes hat; Gott in seiner Gnade hat auch ihr die Form gegeben, die er uns allen gewählt; keine abschreckende Hässlichkeit kennzeichnet sie als einen gezeichneten Charakter. Wer würde glauben, daß der Teufel in ihr bereits eine Dienerin und ein williges Werkzeug gefunden hat? Und doch – es schmerzt mich, es sagen zu müssen – ist dies der Fall.«

Eine Pause. – Ich versuchte, der Lähmung meiner Nerven Einhalt zu tun und mir zu sagen, dass der Rubikon überschritten, dass ich der Prüfung nicht mehr entgehen könne, sondern sie jetzt standhaft ertragen müsse.

»Meine Kinder,« fuhr der schwarze, steinerne Geistliche mit Pathos fort, »dies ist eine traurige, eine betrübende Angelegenheit, denn es ist meine Pflicht euch vor diesem Mädchen zu warnen, das eins von Gottes auserwählten Lämmern sein könnte und jetzt eine Verworfene ist – kein Mitglied der treuen Herde, sondern augenscheinlich eine Fremde, ein Eindringling. Ihr müsst auf eurer Hut sein ihr gegenüber; ihr müsst ihrem Beispiel nicht folgen; wenn es notwendig ist, meidet ihre Gesellschaft, schließt sie von euren Spielen aus, habt keine Gemeinschaft, keinen Umgang mit ihr. Jetzt zu den Lehrerinnen. Sie müssen sie überwachen, ihr Tun beobachten, ihre Worte wohl erwägen und prüfen, ihre Taten untersuchen, ihren Leib strafen, um ihre Seele zu retten – wenn in der Tat eine solche Rettung noch möglich ist, denn – meine Zunge scheut sich, es auszusprechen – dieses Mädchen, dieses Kind, diese Eingeborene eines christlichen Landes, schlimmer als manche kleine Heidin, die ihr Gebet zu Brahma spricht und vor Inggernant kniet – dieses Mädchen ist – eine Lügnerin!«

Jetzt folgte eine Pause von zehn Minuten. – Ich war wieder im Vollbesitz meiner Sinne, meines Verstandes und bemerkte, wie all die weiblichen Brocklehursts ihre Taschentücher hervorzogen und sie an die Augen führten, während die ältere Dame sich hin und her wiegte und die beiden jüngeren flüsterten: »Wie entsetzlich!«

Mr. Brocklehurst begann von neuem.

»Dies alles erfuhr ich durch ihre Wohltäterin; durch die fromme und barmherzige Dame, welche sich der verlassenen Waise annahm, sie wie ihre eigene Tochter erzog, und deren Güte, deren Großmut dieses unglückliche Mädchen durch eine so schwarze, so schändliche Undankbarkeit vergalt, dass ihre ausgezeichnete Beschützerin gezwungen war, sie von ihren eigenen Kindern zu trennen, aus Furcht, dass ihre lasterhafte Verderbtheit die Reinheit der Kleinen besudeln könne. Sie hat sie hierher gesandt, um geheilt zu werden, wie die Juden des Altertums ihre Aussätzigen an den wogenden See von Bethesda schickten. Und daher, Vorsteherin, Lehrerinnen, ich flehe Sie an, lassen Sie die Wellen um dieses Kind nicht zum Stillstand kommen.«

Mit diesen erhabenen Schlussworten knöpfte Mr. Brocklehurst den obersten Knopf seines Überziehers zu, und murmelte etwas zu seiner Familie gewendet. Diese erhob sich, verneigte sich gegen Miß Temple – und dann segelten all die vornehmen Leute mit großem Pomp zur Tür hinaus. Mein Richter aber wandte sich noch einmal um und sagte:

»Lasst sie noch eine halbe Stunde auf jenem Stuhl stehen, und dass keiner von euch während des ganzen übrigen Tages mit ihr spricht.

Bronte, Jayne Eyre, die Waise von Lowood, Erster Teil: Siebentes Kapitel, Minute 18:00.

Das Buch lässt sich auch im Projekt Gutenberg lesen.