„Die Verkündigung der Gnade senkt die Moral in der Gemeinde.“ Diese Aussage las ich sinngemäß vor längerer Zeit in einem Schriftstück. Sie spiegelt ein weit verbreitetes Denken in Gemeinden wieder, in denen die Heiligung besonders stark betont wird (und die Rechtfertigung weniger zur Sprache kommt). In diesen Gemeinden wurde die Botschaft: „Du musst Werke hervorbringen!“ dermaßen oft wiederholt, dass die Betonung der Gnade nach Irrlehre klingt. Das Evangelium ist diesem Denken nach letztlich eine Gefahr, denn es verkündet dem Christen, dass er allein aus Gnade und ohne Werke gerettet wird. Und als Folge dieser Verkündigung würden dann Christen meinen, dass sie nichts mehr zu tun bräuchten, da es allein auf die Gnade ankäme. Der Logik dieses Denkens nach, bewirkt die Verkündigung des Evangeliums unter Christen dann einen zunehmenden Mangel in der Heiligung.
Ich möchte anhand von Titus 3,1-8 dieses Denken hinterfragen. In diesem Abschnitt zeigt Paulus, welche Wirkung die Verkündigung des Evangeliums hat.
Erinnere sie, dass sie sich den Regierenden und Obrigkeiten unterordnen und gehorsam sind, zu jedem guten Werk bereit; dass sie niemand verlästern, nicht streitsüchtig sind, sondern gütig, indem sie allen Menschen gegenüber alle Sanftmut erweisen. Denn auch wir waren einst unverständig, ungehorsam, gingen in die Irre, dienten mannigfachen Lüsten und Vergnügungen, lebten in Bosheit und Neid, verhasst und einander hassend. Als aber die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Retters, erschien, da hat er uns — nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan hätten, sondern aufgrund seiner Barmherzigkeit — errettet durch das Bad der Wiedergeburt und durch die Erneuerung des Heiligen Geistes, den er reichlich über uns ausgegossen hat durch Jesus Christus, unseren Retter, damit wir, durch seine Gnade gerechtfertigt, der Hoffnung gemäß Erben des ewigen Lebens würden. Glaubwürdig ist das Wort, und ich will, dass du dies mit allem Nachdruck bekräftigst, damit die, welche an Gott gläubig wurden, darauf bedacht sind, eifrig gute Werke zu tun. Dies ist gut und nützlich für die Menschen.
Titus 3,1-8
Die Grundlage der Errettung
Zunächst zum Mittelteil (V. 4-7), welches das Herzstück des Abschnitts bildet. Hier legt Paulus das Evangelium dar. Der Apostel spricht von der Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes (V. 4). Von seiner Barmherzigkeit (V. 5) und Gnade (V. 7). Diese Eigenschaften Gottes sind die Grundlage der Errettung. Sie alle drücken aus, dass die Errettung ein Werk Gottes ist. Gott ergriff die Initiative und sandte seinen Sohn Jesus Christus, um für alle Menschen zu sterben. Die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes zeigt sich gerade in Jesus Christus.
Ein weiterer Pfeiler der Errettung ist die Barmherzigkeit Gottes. Dem Apostel ist es dabei wichtig zu betonen, dass Werke bei der Errettung keine Rolle spielen (V. 5). Es kommt also nicht darauf an, was ich geleistet habe und wie viele gute Taten ich hervorgebracht habe. Es ist einfach Gottes Barmherzigkeit. Niemand kann sich auf die Errettung etwas einbilden. Niemand hat sie sich verdient. Vers 3 zeigt im Gegenteil klar auf, dass das Leben ohne Gott alles andere als schmeichelhaft ist.
In Vers 7 erwähnt Paulus außerdem noch die Gnade Gottes, die der Rechtfertigung zugrunde liegt. Wenn es um Gnade geht, kann von Leistung keine Rede sein. Das Wort Gnade schließt dies schon aus. Es kommt also auf die Gnade Gottes an, wenn es um die Rechtfertigung des Menschen geht.
Ein weiteres Detail ist, dass Paulus zweimal betont (V. 4 und V. 6), dass Gott der Retter ist. Damit ist eines klar: Die Grundlage der Errettung ist die Liebe, Freundlichkeit, Gnade und Barmherzigkeit Gottes.
Die Aufforderung
Nachdem Paulus diese frohe Botschaft dargelegt hat, richtet er sich mit einer Aufforderung an Titus (V. 8). Titus soll diese Gnadenbotschaft mit allem Nachdruck bekräftigen. In Kapitel 2 Vers 15 verwendete der Apostel bereits ähnliche Worte. Titus soll lehren und mit allem Nachdruck ermahnen und zurechtweisen. Auch dort geht es vorher um die Gnade Gottes, die erschienen ist und sich im Leben von Menschen deutlich auswirkt. Diese Gnade und die Auswirkung der Gnade soll Titus mit allem Nachdruck weitergeben.
Paulus fordert Titus also zweimal dazu auf, dass er die Gnade Gottes mit allem Nachdruck verkündet. Dabei geht es nicht nur um die Verkündigung unter Nichtchristen, sondern auch unter Christen. Diese Verkündigung soll bei den bereits Glaubenden eine bestimmte Reaktion hervorrufen (V. 8). Sie brauchen das Evangelium also genau so, wie es Nichtchristen brauchen. Mit Nachdruck soll es ihnen bekräftigt werden. Dies bewahrt sie davor zu meinen, dass das Heil von ihnen abhängt. Es erinnert sie daran, dass ihre Errettung Gnade ist. Es führt ihnen erneut vor Augen, wer sie waren und aus welchem Sumpf Jesus sie herausgezogen hat. Und dann verändert das Evangelium das Verhalten der Christen.
Die Wirkung des Evangeliums
Paulus begründet, warum Titus das Evangelium mit allem Nachdruck weitergeben soll. Es hat nämlich gute Werke zur Folge (V. 8). Ihnen wird durch die Verkündigung Christus groß gemacht. Sie erkennen seine Liebe und unverdiente Gnade in ihrem eigenen Leben und reagieren in Liebe und Dankbarkeit auf diese Botschaft. „Jesus hat mich errettet, er hat mir solch eine große Gnade erwiesen, ich möchte ihm jetzt in Liebe antworten und das tun, was er möchte“. Das ist die richtige und natürliche Reaktion auf die Verkündigung der Gnade Gottes. Das ist die Wirkung des Evangeliums.
Das Evangelium verändert Menschen, wenn es in ihrem Leben wirksam wird. Es lässt sie nicht so, wie sie bisher waren. Wie Christen vor ihrer Errettung waren, beschreibt Paulus in Vers 3. Doch nun sieht es anders aus, sie dienen jetzt Jesus. Sie haben eine neue Ausrichtung (V. 1-2) und bringen gute Werke hervor. Sie sind eine neue Schöpfung (2. Kor. 5,17). Diese guten Werke können sie auch nur deshalb hervorbringen, weil sie auf dem Boden der Gnade stehen und der Heilige Geist in ihnen wirkt. Sie bringen die guten Werke also nicht aus sich selbst hervor, sondern durch die Kraft und Wirkung des Geistes. Nur das sind aus biblischer Sicht gute Werke.
Was ist nun mit den Menschen, welche das Evangelium so verstehen, dass sowieso alles Gnade ist und sie so weiterleben können wie sie wollen? Diese Menschen haben das Evangelium leider missverstanden. Als Freifahrtschein für den Himmel, ohne Konsequenzen. Doch das ist ein großer Irrtum. Jesus ist nicht einfach gekommen, um Menschen von der Hölle zu erretten. Jesus ist gekommen, um Menschen von ihrem verdorbenen, selbstsüchtigen Wesen zu erretten. Von ihrer Schuld. Von ihrer Selbstsucht. Von der zerstörenden Wirkung der Sünde. Er ist gekommen, um ihnen Freude zu geben, Erfüllung, Hoffnung, Liebe. Er stellt die Gemeinschaft mit Gott wieder her, die Gemeinschaft, nach der sich Menschen sehnen. Wie kann man angesichts dieser Tatsachen sein eigenes, ichbezogenes Leben weiterleben? Wer erfasst, was Christus für ihn getan hat, wird nicht kalt bleiben, sondern für ihn brennen. Er wird Jesus voller Freude nachfolgen und das tun, was er sagt.
Fazit
Der betrachtete Abschnitt macht deutlich: Die Verkündigung der Gnade senkt nicht die Moral in der Gemeinde. Sie fördert ganz im Gegenteil das Wachsen in der Heiligung. Sie ist das einzige Fundament, auf dem echte gute Werke hervorgebracht werden können. Ohne diese Botschaft landen Menschen in der Werkgerechtigkeit.