Aktuell lese ich das Buch „Der Siegeszug des modernen Selbst“ von Carl R. Trueman. Darin beschreibt er die Entwicklung der westlichen Kultur in Bezug auf die eigene Identität. Diese hat sich sehr stark verändert und ist heute an die sexuelle Orientierung gebunden. Trueman beginnt im 18. Jahrhundert bei Rousseau und legt dar, wie bedeutende Denker die Vorstellungen des modernen Selbst beeinflusst und geprägt haben. Sein Ziel ist es, aufzuzeigen, wie heute weite Teile der Gesellschaft folgende Aussage für stimmig halten können: „Ich bin eine Frau, die im Körper eines Mannes gefangen ist.“
Mein Ziel in den nächsten Wochen ist es, bestimmte Ausführungen aufzugreifen und zu rekapitulieren. Ich nehme das Buch als äußerst hilfreich für das Verständnis der gegenwärtigen Entwicklung im Bereich der sexuellen Revolution und des modernen Selbst wahr und denke, dass es für Christen ein wichtiges Werk darstellt, um die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen besser einordnen zu können.
Bevor Trueman auf bestimmte Denker in der Geschichte zu sprechen kommt, welche die heutige Sicht vorbereitet haben, erstellt er in den ersten zwei Kapiteln das Grundgerüst für die richtige Einordnung der Ideen und Personen, die beim Aufstieg des modernen Selbst eine wichtige Rolle spielen. Dafür setzt er sich mit drei Analytikern der Moderne auseinander, nämlich mit dem kanadischen Philosophen Charles Taylor, dem psychologischen Soziologen Philip Rieff und dem Ethiker Alasdair MacIntyre. Diese Analytiker haben die Moderne untersucht und bestimmte Begriffe und Konzepte vorgestellt, die für das Verständnis der heutigen Zeit eine große Hilfe darstellen.
Der erste Begriff, der in diesem Zusammenhang von Trueman eingeführt wird, ist das „soziale Vorstellungsschema“. Dieser Ausdruck wurde von Taylor geprägt. Er möchte damit aufzeigen, wie bestimmte Theorien, die von den sozialen Eliten entwickelt wurden, zur Überzeugung des normalen Menschen werden, ohne dass diese sich mit diesen Theorien bewusst auseinandergesetzt haben. Das soziale Vorstellungsschema beschreibt dabei die intuitive Überzeugung der breiten Gesellschaft. Es drückt aus, wie Menschen sich die Welt vorstellen und was sie als richtiges und sinnvolles Handeln erachten. Mit diesem Konzept macht Taylor deutlich, dass die Art, wie Menschen über bestimmte Dinge denken, häufig nicht auf ein Auseinandersetzen mit einer bestimmten Theorie beruht, sondern auf einem intuitiven Geschmack.
Doch wie kommt es dazu, dass eine Gesellschaft ein gemeinsames Vorstellungsschema entwickelt? Dies geschieht u.a. dadurch, dass die Eliten bestimmte Geschichten, Bilder und Legenden erzeugen, die sich nach und nach in der Vorstellungswelt der Gesellschaft ausbreiten und mit der Zeit zum Allgemeingut werden. Trueman führt folgendes Beispiel an, um dies zu verdeutlichen:
Sex außerhalb des Ideals der monogamen heterosexuellen Ehe hat schon immer stattgefunden. Durch das Aufkommen billiger und effizienter Verhütungsmittel ist dieser aber erst in jüngster Zeit einfach zu haben. Angesichts der Debatten, die um Abtreibung, Geburtenkontrolle und LGBTQ+-Angelegenheiten kreisen, ist Sex von etwas primär Persönlichem zu etwas politischem geworden. Der Weg dahin ist recht einfach zu erkennen: zuerst gab es das promiskuitive Verhalten, dann kam die Technologie, die es erleichterte (in Form von Verhütungsmitteln und Antibiotika). Als die Technologie es den sexuell Promisken ermöglichte, die natürlichen Folgen ihrer Handlungen zu vermeiden (ungewollte Schwangerschaften, Krankheiten), wurden die Argumente, die das Verhalten rechtfertigten, plausibler (bzw. die Gegenargumente weniger überzeugend) und damit das Verhalten selbst akzeptabler.
Trueman, Der Siegeszug des modernen Selbst, Bad Oeynhausen: Verbum Medien, 2022, S. 46-47.