Der psychologische Mensch oder expressiver Individualismus

Dieser Artikel ist Teil einer Serie, in der ich mich mit dem Werk von Carl Trueman „Der Siegeszug des modernen Selbst“ intensiver auseinandersetze.

Ein weiterer Entwurf, der von Trueman vorgestellt wird, ist der „psychologische Mensche“ des Soziologen Philip Rieff. Trueman verbindet diesen mit dem Begriff des „expressiven Individualismus“, der von dem Philosophen Charles Taylor geprägt wurde.

Beide Denker machen die Beobachtung, dass in der westlichen Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten ein Wechsel in der Ausrichtung des Menschen stattgefunden hat. Wenn der Einzelne früher auf etwas Größeres außerhalb von sich selbst gerichtet war, wie die Familie, den Klan oder die Gemeinschaft, so ist er heute auf sich selbst ausgerichtet. Die eigenen Gefühle und Vorstellungen stehen im Mittelpunkt. Dies steht zu der traditionellen westlichen Kultur im Widerspruch. Dort war der Einzelne durch seine Ausrichtung nach Außen geprägt. Die größere Gemeinschaft war prägend und formte den Einzelnen entsprechend der gemeinschaftlichen Ziele. Der Soziologe Philip Rieff verwendet dieses Konzept als Grundlage, um seine kulturgeschichtliche Einteilung der unterschiedlichen „Menschen“ vorzunehmen und deutlich zu machen, wie das aktuelle Zeitalter eine dramatische Veränderung in der Kulturgeschichte darstellt. Rieff beginnt seine Einteilung mit dem politischen Menschen, entsprechend den Vorstellungen von Platon und Aristoteles. Der politische Mensch definiert sich über seine Teilnahme an politischen Versammlungen, den Besuch des Areopags und des bürgerlichen Lebens. Seine nach außen gerichteten politischen Aktivitäten waren für diesen Typus also prägend.

Im Verlauf der Geschichte wird der politische Mensch vom religiösen Menschen ersetzt. Dies zeigt sich vor allem im Mittelalter. Der Besuch der Messe, das Feiern von religiösen Festen und die Teilnahme an Pilgerfahrten prägen das Leben im Mittelalter. Der religiöse Mensch definiert sich über seinen Glauben, der auf die religiöse Gemeinschaft ausgerichtet ist.

Der dritte Typus ist nach Rieff der „ökonomische Mensch“. Dieser löst den religiösen Menschen ab. Er definiert sich über seine wirtschaftliche Tätigkeit wie Handel, Produktion und Erwirtschaftung von Geld.

Schließlich verdrängt der „psychologische Mensch“ den ökonomischen. Bei diesem Typus kommt es zu einer entscheidenden Wende. Er definiert sich nicht über etwas, was außerhalb von ihm liegt, so wie es bei den ersten drei Typen der Fall war, sondern über sich selbst. Der psychologische Mensch ist auf sein Inneres ausgerichtet und sucht dort nach Erfüllung. Das Gefühl ist für ihn von entscheidender Bedeutung.

Trueman verbindet an dieser Stelle das Konzept Rieffs vom psychologischen Menschen mit Taylors Entwurf des „expressiven Individualismus“. Im Mittelpunkt steht nicht mehr die Gemeinschaft, sondern das Individuum. Der Sinn besteht darin, den eigenen Gefühlen und Wünschen Ausdruck zu verleihen. Trueman verdeutlicht dies an einem Beispiel. Sein Großvater arbeitete sein Leben lang in einer einzigen Fabrik und hätte die Frage, ob er seine Arbeit erfüllend findet, wahrscheinlich nicht verstanden, da sie aus der Welt des psychologischen Menschen stammt, zu der er nicht gehörte. In seiner Antwort würde der Großvater vermutlich darlegen, dass er zufrieden ist, wenn die Familie durch seine Arbeit versorgt ist. Seine Wahrnehmung war auf seine Familie und ihr Glück ausgerichtet. Für den psychologischen Menschen ist hingegen die persönliche Erfüllung am Arbeitsplatz bedeutend. Es geht darum, bei dem, was man tut, ein gutes Gefühl zu haben. Die Arbeit muss Spaß machen.

Diese Veränderungen sind entscheidende Wegbereiter für das gegenwärtige soziale Vorstellungsschema. Auf diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass Fragen der Abtreibung, Homosexualität, Pornographie und des Geschlechtswechsels kein Problem mehr für den psychologischen Menschen darstellen. Schließlich geht es ihm in erster Linie um seine eigene Erfüllung und seine Identität.