Dieser Artikel ist Teil einer Serie, in der ich mich mit dem Werk von Carl Trueman „Der Siegeszug des modernen Selbst“ intensiver auseinandersetze.
Der kanadische Philosoph Charles Taylors stellt in seinen Werken das Konzept der Mimesis und Poiesis vor. Es geht hier um zwei unterschiedliche Sichtweisen auf die Welt. Trueman definiert:
Diese beiden Begriffe beziehen sich – einfach ausgedrückt – auf zwei verschiedene Ansätze, die Welt zu betrachten. Eine mimetische Sichtweise versteht die Welt als mit einer Ordnung und einem Sinn versehen. Daher steht der Mensch vor der Aufgabe, diesen Sinn zu entdecken und sich auf ihn einzustellen. Poiesis hingegen sieht die Welt als Rohmaterial an, aus dem sich das Individuum Sinn und Bedeutung erschaffen kann.
Trueman, Der Siegeszug des modernen Selbst, 2. Aufl. Bad Oeynhausen: Verbum Medien, 2022, S. 47.
Die christliche Sichtweise ist eine klassisch mimetische Position. Gott ist der Schöpfer des Menschen und hat ihn zur Gemeinschaft und zu seiner Ehre erschaffen. Da Gott der Ursprung allen Lebens ist, ist er auch der Sinnstifter. Die Aufgaben des Menschen ist es nun, diesen Sinn zu erkennen. Die poietische Weltsicht steht dem diametral entgegen. Der Mensch ist sein eigener Sinnstifter, da es kein höheres Wesen und somit auch keine Offenbarung gibt. Er kann sich seinen Sinn selbst kreieren, so wie es ihm passt.
Taylor zeigt auf, dass sich die westliche Kultur von einer mimetischen hin zu einer poietischen gewandelt hat. Das liegt nicht zuletzt am technologischen Wandel und der damit verbundenen Annahme, die Natur beherrschen zu können. Viele Krankheiten können heute, im Gegensatz zu früher, geheilt werden. Die Landwirtschaft ist stark technisiert und weniger den Unwägbarkeiten, wie sie im Mittelalter vorherrschten, ausgesetzt. Landwirte waren früher stärker von äußeren Einflüssen abhängig. Es gab keine Pestizide und künstlichen Dünger. Auch die Kommunikation und das Reisen haben sich grundlegend verändert. Grenzen, die früher existierten, sind heute im starken Maße reduziert. Kommunikation ist in Echtzeit möglich, weite Entfernungen können in kürzester Zeit überwunden werden. Das ist ein Grund dafür, dass Menschen meinen, ihre eigene Natur formen zu können. Dies gilt auch entsprechend für das Verständnis des Selbst. Jeder kann sein Selbst so formen, wie es ihm richtig erscheint. Die poietische Sicht bildet somit den Nährboden für folgende Aussage: „Ich bin eine Frau, gefangen im Körper eines Mannes“.
Die poietische Sichtweise ist letztlich die Ansicht, dass der Mensch selbst Gott ist. Da es keinen übergeordneten Sinn gibt, kann jeder sich seinen eigenen Sinn kreieren. Er kann sich seine Moral kreieren, sein Geschlecht und seine eigenen Ordnungen. Was richtig und falsch ist, wird beliebig, da jeder es für sich anders definieren kann. Die Orientierungslosigkeit ist vorprogrammiert.