Auf das Konzept der drei Welten nach dem Soziologen Philip Rieff bin ich bereits hier eingegangen. In diesem Beitrag beleuchte ich näher, wie die unterschiedlichen Welten mit der Kultur umgehen. Hier wird vor allem zwischen den ersten beiden und dritten Welten ein Unterschied sichtbar. In ersten und zweiten Welten wird die Kultur gefördert und bewahrt. Universitäten und Intellektuelle sind dort u.a. für die Erhaltung der Kultur zuständig. Der Umgang von dritten Welten steht dem diametral entgegen. Hier sorgen Intellektuelle für die Zerstörung und Dekonstruktion der Kultur. Aus diesem Grund führt Rieff den Begriff der Antikultur ein. Seiner Auffassung nach kann der Umgang der dritten Welt mit dem kulturellen Erbe nicht mehr als Kultur, sondern nur als Antikultur bezeichnet werden, da die früheren Werte nicht weitergegeben, sondern zerstört werden. Die heiligen Ordnungen der ersten beiden Welten zählen in der dritten Welt nicht und werden umgestürzt, sie werden als einengend und nutzlos empfunden.
Trueman definiert Kultur wie folgt und zeigt damit, dass der Begriff der Antikultur von Rieff äußerst passend gewählt wurde:
Als Kultur bezeichnen wir für gewöhnlich jene Traditionen, Institutionen und Verhaltensmuster, die die Werte der einer Generation an die nächste weitergeben.
Trueman, Der Siegeszug des modernen Selbst, 2. Aufl. Bad Oeynhausen: Verbum Medien, 2022, S. 102.
Wie Trueman hervorhebt, ist es dabei allerdings wichtig zu differenzieren. Während der Reformation haben Männer wie Martin Luther einen Teil der vorherrschenden katholischen Kultur infrage gestellt und alternative Entwürfe geliefert. Dies war allerdings kein Angriff auf die heiligen Ordnungen, da sich sowohl Protestanten als auch Katholiken auf die gleichen Ordnungen beriefen, nämlich Gottes Wort und die Geschichte. Das Anliegen Luthers und anderer Männer war es, die ursprüngliche Kultur wiederherzustellen und nicht umzustürzen. Die Disputationen und Kämpfe fanden innerhalb der zweiten Welt statt, in der beide Seiten die heiligen Ordnungen akzeptierten. Es ging also nicht um eine Infragestellung der Ordnungen, sondern darum wie diese zu interpretieren sind.
Die Mitglieder dritter Welten agieren hingegen völlig anders, indem sie jegliche heilige Ordnung ablehnen und diese zum Abschuss freigeben. Ein aktuelles Beispiel für dieses Verhalten liefert Yascha Mounk in seinem Buch „Im Zeitalter der Identität: Der Aufstieg einer gefährlichen Idee“. Er beschreibt dort, wie sich die Progressiven in den USA dafür einsetzen, dass Mitglieder marginalisierter Gruppen (Latinos, Afroamerikaner, usw.) unter sich bleiben können. Das hat zur Folge, dass in manchen Schulen Klassen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit voneinander getrennt werden. Afroamerikaner sind in einer afroamerikanischen Klasse, Latinos ebenfalls usw. Dies wird „progressiver Separatismus“ genannt. Anstatt die Verständigung zwischen den einzelnen Gruppen zu fördern, werden diese voneinander separiert. Yascha Mounk schreibt:
Gegenseitige Empathie ist dann am wahrscheinlichsten, wenn Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund, sich als Teil eines Teams verstehen, das gemeinsame Ziele verfolgt. Anstatt sich als Weiß oder Schwarz, Hetero oder Schwul zu sehen, sollten sie sich wenigstens in der gegebenen Situation an Mitglieder derselben Schulklasse oder derselben Sportmannschaft betrachten. Den Vertretern des progressiven Separatismus jedoch, ist die Betonung solcher Gemeinsamkeiten höchst verdächtig. Wer sagt: „Wir sind alle Amerikaner“ oder „Wir gehen alle auf das Haverford College“ spielt ihrer Ansicht nach die Wichtigkeit der Rasse herunter und kehrt soziale Konflikte damit unter den Teppich. Stattdessen ermutigt das Führungspersonal mächtiger Institutionen inzwischen Menschen dazu, ihr Selbstbild von ihrer rassischen Identität bestimmen zu lassen und die möglichen Interessenkonflikte zwischen verschiedenen Gruppen zu betonen.
Mounk, Im Zeitalter der Identität: Der Aufstieg einer gefährlichen Idee, Kapitel 11: Ein Plädoyer für die Integration, Min. 36:57
Damit werden die Anstrengungen der Bürgerrechtsbewegung in ihr Gegenteil verkehrt. Martin Luther King u.a. hatten sich ja gerade dafür eingesetzt, dass alle Menschen gleich behandelt werden und die gleichen Rechte haben. Sie beriefen sich dabei auf die Bibel und die Tatsache, dass Gott alle Menschen nach seinem Ebenbild erschaffen hat und deshalb allen Menschen die gleichen Rechte zustehen. Die Gründerväter haben dies in der Unabhängigkeitserklärung festgehalten, indem sie schrieben: „Alle Menschen sich gleich geschaffen“ und „der Schöpfer hat ihnen bestimmte unveräußerliche Rechte verliehen“.
Hier treten die Folgen ein, die Trueman an anderer Stelle beschreibt. Da die dritten Welten kein Fundament mehr haben, wird alles beliebig und von den aktuellen Trends abhängig. Die heiligen Ordnungen wurden verworfen und das Ergebnis ist Chaos und Unbeständigkeit.
Dieser Artikel ist Teil einer Serie, in der ich mich mit dem Werk von Carl Trueman „Der Siegeszug des modernen Selbst“ intensiver auseinandersetze.