Die Apostelgeschichte ist ein Buch, in welchem die Entstehung der ersten Gemeinden beschrieben wird. Lukas teilt in seinem Bericht mit, wie sich das Evangelium zunächst in Jerusalem, in Judäa und Samaria und dann in Europa, Asien und Afrika weiter ausbreitete. Der größte Teil der Apostelgeschichte ist dabei von beschreibender (deskriptiver) Art. Die Missionsreisen des Paulus, die Heilung des Gelähmten, die Gütergemeinschaft in der Jerusalemer Gemeinde usw. Dies alles sind Texte deskriptiver Natur. Sie geben erst mal nur wieder was geschehen ist. Dies betrifft alle Erzähltexte in der Bibel, die einfach den Ablauf von Geschichtsereignissen wiedergeben.
Vorschreibende (präskriptive) Text sind die zweite Art von Texten, die man in der Bibel findet. Sie schreiben vor was getan oder gelassen werden soll. Große Teile der NT-Briefe sind solche Texte. Im Epheserbrief schreibt Paulus z.B.: Zürnt ihr, so sündigt nicht; die Sonne gehe nicht unter über eurem Zorn! Gebt auch nicht Raum dem Teufel! Eph. 4,25-27 Oder im ersten Thessalonicherbrief: Seht darauf, daß niemand Böses mit Bösem vergilt, sondern trachtet allezeit nach dem Guten, sowohl untereinander als auch gegenüber jedermann! Freut euch allezeit! Betet ohne Unterlaß! Seid in allem dankbar; denn das ist der Wille Gottes in Christus Jesus für euch. 1. Thess. 5,15-18 Hier erhalten Christen ganz klare Aufforderungen, was sie tun sollen. Es handelt sich also um vorschreibende Texte.
Dies gilt es nun bei der Auslegung der Bibel zu beachten. Beim Lesen der Apostelgeschichte komme ich z.B. immer wieder an Stellen, an denen ich mich frage, wie ich damit umgehen soll. Ist die beschriebene Gütergemeinschaft in Jerusalem eine Praxis, die nun von allen Christen angewendet werden muss? Muss auch heute für Menschen gebetet werden, bevor sie den Heiligen Geist empfangen? Lukas beschreibt einige Wunder, die durch die Apostel geschahen. Müssen diese Wunder auch heute von den Christen getan werden? Hier ist es hilfreich zu erkennen, ob der Text deskriptiv oder präskriptiv ist. Will er in erster Linie etwas beschreiben oder gibt es eine konkrete Aufforderung?
Die Apostelgeschichte enthält beide Textsorten, sowohl beschreibende als auch vorschreibende. Die Aussage Jesu in Apg. 1,8 ist z.B. vorschreibend, die Verheißung der Engel (1,11) ebenfalls. Oder die exklusive Errettung in Jesus Christus (4,12) und auch die Aussage der Apostel, dass man Gott mehr gehorchen muss, als den Menschen (5,29).
Was ist aber nun mit den beschreibenden Texten? Wie gehe ich mit ihnen richtig um? Auch diese Texte sind nützlich zur Belehrung, zur Überführung, zur Zurechtweisung und zur Erziehung (2. Tim. 3,16). Nur können sie nicht einfach immer 1-zu-1 auf das eigene Leben übertragen werden. Wichtig ist bei diesen Stellen, dass sie vom gesamtbiblischen Zusammenhang her ausgelegt werden. Die Schrift wird mit der Schrift erklärt. Was sagen andere Stellen, die bei der Einordnung eines beschreibenden Abschnittes helfen? Wie bewertet die Bibel bestimmte Handlungen, wenn aus der Geschichte selbst keine Bewertung erkennbar ist? Gibt es an anderer Stelle eine Aufforderung, welche ein bestimmtes Verhalten einfordert oder verurteilt? Die Gütergemeinschaft in Jerusalem z.B. wird an keiner Stelle in der Bibel geboten. Nächstenliebe und Gutes tun sind geboten, aber keine Aufgabe von Privatbesitz. Die Gemeinde in Jerusalem beschloss aus freien Stücken, solch eine Praxis der Liebe und Barmherzigkeit anzuwenden. Das Prinzip, welches sich aus dieser Begebenheit ableiten lässt, ist, dass die Gemeinde von Liebe, Opferbereitschaft und Barmherzigkeit gekennzeichnet wird, aber kein Gesetz welches von allen Christen verlangt, Gütergemeinschaften zu bilden.
Die Unterscheidung zwischen beschreibenden und vorschreibenden Texten ist also geboten, um Irrwege in der Auslegung zu vermeiden. Beschreibende Texte benötigen eine Stützung durch vorschreibende Passagen, um daraus Anwendungen ableiten zu können. Der Kontext muss beachtet werden, die Hauptaussage des Ereignisses ebenfalls.
Stadelmann und Richter empfehlen 4 Leitlinien für Erzähltexte:
(1) Beachten Sie den Rahmen: Die atl. Erzählung ist Bestandteil einer umfassenderen und zusammenhängenden Handlung!
(2) Beachten Sie den Verlauf: Die atl. Erzählung hat meistens einen Handlungsablauf (Plot: Anlass – Steigerung – Höhepunkt – Entspannung – Folge)!
(3) Beachten Sie die Funktion der Handelnden: Die atl. Erzählung »lebt« durch ihre Akteure! Wer agiert bzw. bestimmt die Handlung (Hauptakteur / »Held der Geschichte«) und wer reagiert (Nebenrolle)? In der Regel ist die atl. Erzählung theozentrisch und nicht anthropozentrisch, denn meistens steht Gott im Zentrum (Hauptakteur) und nicht der Mensch (Nebenrolle).
(4) Beachten Sie die Leitwörter: Die atl. Erzählung »liebt« die Wiederholung! Sie wird in der Regel durch sich wiederholende Schlüsselwörter strukturiert.
Helge Stadelmann und Thomas Richter, Bibelauslegung praktisch: In zehn Schritten den Text verstehen, 8. überarbeitete Auflage. (Witten: SCM R. Brockhaus, 2017), 93–94.