Stell dir vor, du stehst an einer Bushaltestelle und ein junger Mann, den du noch nie gesehen hast tritt zu dir und sagt: „Der Name der gemeinen Wildente ist Anas platyrhynchos“ Was würdest du dir denken? Nun, dies kann sehr unterschiedlich interpretiert werden. Eine Möglichkeit ist, dass dieser junge Mann psychisch krank ist. Eine weitere Möglichkeit wäre, dass er dich mit jemandem verwechselt, den er gestern in der Stadtbibliothek getroffen hatte und nach dem lateinischen Namen der gemeinen Wildente fragte. Eine dritte Möglichkeit wäre, dass es sich hier um einen Geheimagenten handelt, der dir sein Codewort nennt, weil er meint, dass du Teil des Agentennetzwerks bist.1 Dieses Beispiel zeigt deutlich, was geschieht, wenn der Kontext einer Geschichte fehlt. Die gegebenen Informationen können auf ganz unterschiedliche Weise interpretiert werden.
Genauso ist es, wenn Bibeltexte genommen und ohne Kontext betrachtet werden. Da lässt sich so gut wie alles hineininterpretieren. Das ist natürlich etwas überspitzt formuliert, aber das Problem der Nichtbeachtung des Kontextes kommt öfter vor, als du vielleicht denkst. Sprungbrett-Predigten sind da der Klassiker. Das sind Predigten, bei denen der Verkündiger eine bestimmte Bibelstelle oder ein Wort aus dieser Stelle als Sprungbrett verwendet, um bei seinem Lieblingsthema zu landen oder ein Thema darzulegen, über das er schon länger sprechen wollte. Die Darlegung des Kontextes? Fehlanzeige. Der Zuhörer erfährt in dieser Predigt alles möglich, nur keine gute Erklärung des eingangs gelesenen Textes. An zwei konkreten Bibelstellen möchte ich nun verdeutlichen, was geschehen kann, wenn der Kontext nicht beachtet wird.
In Offenbarung 3,20 heißt es: Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hört und die Tür öffnet, so werde ich zu ihm hineingehen und das Mahl mit ihm essen und er mit mir. Diese Stelle wird häufig in evangelistischen Veranstaltungen verwendet, mit Nichtchristen als Zielgruppe. Das Problem daran ist, dass diese Worte nicht an Ungläubige, sondern an die Christen in Laodizea gerichtet sind. Jesus steht vor ihrer Tür und klopft an. Der Zustand in dieser Gemeinde war so ernst, dass Jesus hier dieses erschreckende Bild verwenden musste. Er steht als eigentlicher Heiland und Herr der Christen draußen und klopft an. Die Situation für die Gemeinde war also sehr ernst. Wenn wir hier den Kontext beachten, stellen wir fest, dass diese Worte Christen als Zielgruppe ansprechen.
Ein zweites Beispiel aus Kolosser 3,1-2: Wenn ihr nun mit Christus auferweckt worden seid, so sucht das, was droben ist, wo der Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes. Trachtet nach dem, was droben ist, nicht nach dem, was auf Erden ist; Ohne Kontext könnte man hier zu dem Schluss kommen, dass Christen sich auf das Geistliche fokussieren und dem Irdischen möglichst wenig Raum geben sollten. Immer wieder nehmen Christen an dieser Stelle eine Trennung vor. Wenn wir allerdings betrachten, was Paulus vor diesem Abschnitt und danach schreibt, wird deutlich, dass seine Unterscheidung zwischen „droben“ und „auf Erden“ an einer anderen Stelle verläuft. In Kap. 2 ab Vers 16 warnte der Apostel die Kolosser vor falschen Lehrern, die der Gemeinde Menschengebote auferlegen wollten. Sie versuchten den Christen alles mögliche zu verbieten, wie bspw. bestimmte Speisen oder Getränke (V. 16). Sie waren der Überzeugung, dass man in dieser Welt auf möglichst viel verzichten sollte, um so ein heiliges Leben zu führen. Doch Paulus nennt dies einen selbstgewählten Gottesdienst, der wertlos ist und zur Befriedigung des Fleisches dient (V. 23). Nach dem zu trachten was droben ist, bedeutet also nicht zwingend, dass man auf alles mögliche auf dieser Erde verzichtet.
Ab Vers 5 in Kap. 3 zählt der Apostel dann eine lange Liste an Sünden auf, die abgetötet werden sollen. Hier wird schon erkennbar, dass Paulus mit dem was auf Erden ist sündige Handlungen meint, wie Habsucht, Lästerung, Lüge usw. Ab Vers 12 wird er dann konkreter bezüglich des, was „droben“ ist. Es geht um Freundlichkeit (V. 12), Liebe (V. 14), Friede (V. 15) u.a. Ab Vers 18 erwähnt er anschließend drei konkrete Bereiche, in denen nach dem getrachtet werden soll was droben ist. Die Ehe (V. 18-19), die Familie (V. 20-21) und die Arbeitsstelle (V. 22 und 4,1).
Paulus trennt hier also nicht zwischen Geistlichem und Irdischem, sondern zwischen dem geistlichen Bereich und dem fleischlichen Bereich, wie es auch aus anderen Briefen hervorgeht. Das Irdische ist nicht per se schlecht oder minderwertig, sondern kann geistlich oder fleischlich sein, je nachdem wie wir damit umgehen.
Diese Beispiele zeigen, wie wichtig eine Schriftauslegung ist, die den Kontext beachtet. Wir müssen prüfen, was vor dem gegebenen Text steht und was danach folgt. Das ist aber noch nicht alles. Es gilt auch den Kontext des Buches zu beachten, in dem der Text steht. Folgende Fragen können hier helfen: Was sind die Hauptanliegen des Autors in dem Buch? Wie kann das Buch gegliedert werden? Liegt bei den Adressaten ein Problem vor, welches der Autor adressiert? An welcher Stelle in seiner Argumentation befindet sich der Autor gerade?
Wir können aber noch weiter rauszoomen und den gesamtbiblischen Zusammenhang betrachten. An welchen Stellen wird ein ähnlicher Gedanke formuliert oder das Thema ebenfalls behandelt? An welchen weiteren Stellen kommen Schlüsselwörter vor, die in dem zu behandelnden Text enthalten sind? In welcher Phase der fortschreitenden Offenbarung Gottes steht dieser Text? In welchem Stadium der heilsgeschichtlichen Entwicklung wurde dieser Text verfasst?
Wenn wir diese Arbeit in den Text investieren, werden wir reich belohnt. Wir werden immens von der intensiveren Beschäftigung mit dem Text profitieren, wir werden die Absicht des Autors besser verstehen und werden den Text dann besser in den gesamtbiblischen Zusammenhang einordnen können. Die Arbeit mit dem Kontext wird unser Denken verändern und, wenn wir Prediger sind, dann auch für die Zuhörer ein Gewinn sein. Ich muss immer wieder daran denken, wie häufig ich schon von Predigten enttäuscht war. Der Prediger las am Anfang einen Text und ich freute mich schon auf die Auslegung, aber stattdessen wurden viele Bibelstellen aneinandergereiht, und es entstand eine Konkordanzpredigt. Ganz anders war es aber bei Predigten, bei denen der Text ernstgenommen und der Kontext dargelegt wurde. Aus solchen Predigten ging ich häufig mit Gewinn raus.
Ein weiterer Punkt ist, dass wir den Text letztlich nur dann ernst nehmen, wenn wir ihn im Kontext betrachten. Wie in der Einleitung dargelegt, wird die Auslegung ansonsten nahezu beliebig. Der Kontext bindet unser Denken an das Denken des Autors. Wir folgen dem Erzähl- oder Argumentationsstrang des Verfassers und legen den Text darin eingebettet aus. Damit setzen wir den Rahmen des Textes und vermeiden die Gefahr den Text nur als Sprungbrett zu verwenden oder einfach wieder bei unseren Lieblingsthemen zu landen.
Der Kontext ist ein wichtiger Baustein in der Auslegung eines gegebenen Abschnitts oder Verses. Dies kann der unmittelbare Kontext sein, der Kontext des Buches oder der gesamtbiblische Kontext. Wenn wir ihn nicht beachten, nehmen wir den Text letztlich nicht ernst und können in eine Falle tappen und in den Text etwas hineinlegen, was dieser vom Kontext gar nicht hergibt. In der Theologie spricht man dann von Eisegese (Einlegung) statt Exegese (Auslegung). Wir brauchen heute eine gute Auslegung, die nicht darauf bedacht ist passende Stellen zu den eigenen Gedanken zu finden oder als Sprungbrett zu verwenden, sondern Texte in ihrem eingebetteten Zusammenhang ernst zu nehmen und das eigene Denken davon prägen und verändern zu lassen.
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1Vgl. Keller, Berufung: Eine neue Sicht von der Arbeit, Kap. 13, Min. 1:22.