Heute haut die Aussage „Ich bin eine Frau, die im Körper eines Mannes gefangen ist“ in der westlichen Gesellschaft kaum jemanden vom Hocker. Doch wie konnte es dazu kommen? Carl Trueman zeichnet in seinem Buch „Der Siegeszug des modernen Selbst“ die Grundlinien der Entwicklung nach, die in das heutige Denkschema münden. Von Rousseau ausgehend über Marx, Freud, Nitzsche und der Frankfurter Schule bis zu den LGBTQ+ – Aktivisten. Trueman legt dar, dass sich die Sicht auf das Selbst in den letzten 200 Jahren stark verändert hat, sodass es zu der eingangs zitierten Aussage kommen konnte.
Besonders wertvoll sind meines Erachtens die ersten beiden Kapitel, in denen der Verfasser grundlegende Begriffe bespricht, die drei Philosophen der Neuzeit (Charles Taylor, Philip Rieff und Alasdair MacIntyre) in Blick auf die Gegenwartskultur geprägt haben. Diese Kapitel haben mich am intensivsten beschäftigt, weil sie wesentliche Hinweise dazu liefern, wie das Denken der heutigen Gesellschaft eingeordnet werden kann. Im weiteren Verlauf des Buches greift Trueman immer wieder auf diese grundlegenden Konzepte zurück und wendet sie auf historische Ereignisse an. Allein die ersten beiden Kapitel sind es schon wert, dass man sich dieses Werk zulegt.
Ab Kapitel drei beginnt dann die Darlegung der geschichtlichen Entwicklung, die am Ende in dem individualistischen, psychologischen Menschen mündet, der seine Identität so formen kann, wie er es möchte: Das moderne Selbst ist geboren. Trueman versteht es, wichtige Persönlichkeiten der Geschichte zu beleuchten, die für diese Entwicklung von Bedeutung sind, dabei erhebt er allerdings nicht den Anspruch, alles vollständig und lückenlos darzustellen. Gleichwohl werden einige der wichtigsten Akteure benannt und analysiert.
Das Buch ist von einer nüchternen Darlegung der Fakten geprägt, ohne polemisch zu werden oder anzuklagen, dies ist auch das erklärte Ziel Truemans. Er sieht sein Buch ganz klar als eine Einführung in die Thematik, auf der weiter aufgebaut und aus christlicher Perspektive bewertet werden sollte. Eine Beurteilung aus christlicher Sicht wäre sicherlich von großem Wert gewesen, ist aber vom Autor bewusst nicht als Ziel des Buches ausgegeben. In einem Schlusswort gibt er allerdings einige Gedanken aus christlicher Sicht weiter, die zum weiteren Nachdenken und Forschen anregen.
Trueman legt hier ein Buch vor, welches als Standardwerk bezeichnet werden kann. Es zählt definitiv zu den prägendsten Büchern, die ich in den vergangenen Jahren gelesen habe und zu denen, die mich am meisten beschäftigt haben. Wer die Gegenwartskultur und das zeitgenössische Denken besser verstehen möchte, kommt kaum an diesem Werk vorbei. Auch wenn das Buch in einer anspruchsvollen Sprache formuliert wurde, die von Fremdwörtern gespickt ist, lohnt es sich, Mühe und Zeit zu investieren, um dieses Werk durchzuarbeiten.
In einigen Blogbeiträgen habe ich mich mit einzelnen Aussagen aus dem Buch intensiver auseinandergesetzt:
- Soziales Vorstellungsschema
- Der psychologische Mensch oder expressiver Individualismus
- Mimesis und Poiesis
- Heilige Ordnungen
- Dritte Welten als Antikulturen
- Dritte Welten sind antihistorisch
- Todeswerke
- Die zersetzende Wirkung der Pornographie
PS: Bei Youtube kann das gesamte Hörbuch kostenlos gehört werden.